Rede
Rede Stefan Quandt 2012

Energiewende und Euro-Krise - zwei Herausforderungen mit vielen Parallelen

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

bevor wir unsere Aufmerksamkeit den Preisträgern und ihren Beiträgen zuwenden, möchte ich einige Anmerkungen zu zwei Themen machen, die uns alle direkt und unmittelbar betreffen: die Energiewende und die Krise des Euro, die eigentlich eine Krise der staatlichen Haushalte im Euroraum ist.
Ich will die Bezüge dieser beiden Themen zueinander nicht überstrapazieren. Und doch gibt es viele Parallelen zwischen diesen beiden großen „Gesellschaftsprojekten“. Drei davon möchte ich an dieser Stelle herausgreifen:

  • Erstens: Beide Projekte erfordern weitreichende „Infrastruktur“-Maßnahmen. Im Fall der Energiewende muss das gesamte deutsche Leitungsnetz für eine dezentrale Energieversorgung massiv um- und ausgebaut werden – inklusive der Integration von geeigneten Speicher- und Steuerungstechnologien, deren Erforschung und Entwicklung sich erst im Frühstadium befindet. All dies hat signifikante Auswirkungen auf die europäische Versorgungsinfrastruktur und deren Schnittstellen.
    Ein ähnliches Bild ergibt sich im Zusammenhang mit der Euro-Krise. Sie erfordert den Bau einer neuen Finanzarchitektur und die Neujustierung der Zuständigkeiten zwischen den Ländern der Währungsunion und der Zentrale in Brüssel.
  • Die zweite Parallele: Ob der Um- und Ausbau der jeweiligen „Infrastruktur“ gelingen wird, ist derzeit noch völlig offen. Fest steht jedoch: Ohne entsprechende Maßnahmen werden beide Projekte Provisorien bleiben. Provisorien, die bedrohlich ins Wanken geraten sind und deren Einsturz unabsehbare Folgen haben würde.
  • Und drittens: Beide „Gesellschaftsprojekte“ sind unbestreitbar in eine kritische Phase eingetreten. Wenn jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt werden, stehen beide vor dem Aus. Und schon heute ist sicher, dass auch ihre erfolgreiche Weiterführung mit großen Belastungen verbunden sein wird.

Vor genau einem Jahr habe ich hier in diesem Rahmen ausführlich über die Energiewende gesprochen und in Anbetracht der vielen ungelösten Fragen Bedenken an dem ausgegebenen Fahrplan geäußert. Die vergangenen zwölf Monate haben leider gezeigt, dass viele der damals angesprochenen und von vielen geteilten Bedenken mehr als berechtigt waren. So ist der Ausbau der Stromtrassen so gut wie nicht vorangekommen. Die technischen Probleme bei der Errichtung von Offshore-Windanlagen sind zwar besser verstanden, erscheinen dadurch aber eher noch größer als vor einem Jahr. Hinzu kommt, dass die Banken immer seltener dazu bereit sind, entsprechende Projekte zu finanzieren.

Ebenso problematisch zu sehen sind einige Gesetzesinitiativen, die in ihrer strategischen Ausrichtung unverständlich erscheinen. So kann man vor dem Hintergrund einer angespannten Haushaltslage sicher über eine stärkere Reduzierung der finanziellen Förderung von Solarenergie diskutieren. Aber wenn in der Gesetzesbegründung nicht Kostensenkungen, sondern die „Beschränkung des jährlichen Zubaus“ als Ziel an sich genannt wird, fragt man sich schon, wie sich dies mit einer möglichst schnellen Umstellung unserer Volkswirtschaft auf erneuerbare Energien verträgt.

Es bleiben also unverändert viele Fragen zur Energiewende offen, inhaltlich sind wir nicht wirklich vorwärtsgekommen. Und doch – oder vielleicht gerade deshalb – ist Bewegung in dieses „Gesellschaftsprojekt“ gekommen, wofür es drei klare Indizien gibt:

  • Erstens ist die Energiewende im Zuge der personellen Neubesetzung des Umweltressorts zur „Chefinnensache“ erklärt worden.
  • Zweitens sollen regelmäßige Bund-Länder-Treffen dem Gerangel um Kompetenzen und Zuständigkeiten ein Ende bereiten.
  • Und drittens gestaltet die Industrie den Transformationsprozess nach anfänglicher Schockstarre nun proaktiv mit und wird ihn mit einem intensiven Monitoring begleiten.

Diese Fortschritte lassen mich bezüglich der Energiewende hoffen, dass wir in den kommenden zwölf Monaten endlich auch in der Sache vorankommen – es ist höchste Zeit.

Meine Damen und Herren,

mit Blick auf die gegenwärtige Verfassung des Euro stellt sich bei vielen von Ihnen vielleicht ein ähnliches Déjà-vu-Erlebnis ein. Viele der Fragen, auf die nun überzeugende Antworten gefunden werden müssen, standen hier bereits vor einem Jahr und auch schon lange davor auf der Agenda. Und somit stellt sich die Frage:

Welche Veränderungen – sei es in der Sache oder in der Herangehensweise der Politik – sind notwendig, um uns beim Thema Euro ebenfalls Anlass zu neuer Hoffnung zu geben?

Frau Merkel hat die Euro-Krise als „schwerste Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnet. Ich denke zu Recht, denn die globale Finanz- und Fiskalkrise hat die EU in einer an sich schon schwierigen Übergangsphase eingeholt. Erinnern wir uns: Die bisher größte und letzte Erweiterungsrunde im Jahr 2004 war ein großer Kraftakt, der mit großer Mühe, aber dennoch erfolgreich, gemeistert werden konnte. Gescheitert hingegen ist das anschließende Verfassungsprojekt, mit dem das vergrößerte europäische Haus auf ein solides Fundament gestellt werden sollte. Die Folge war ein völliger Stillstand des Integrationsprozesses, der bis zum Beginn der Finanz- und Schuldenkrise andauerte. Nun muss sich die EU gleich mit mehreren Konstruktionsfragen auseinandersetzen, die, jede für sich genommen, eine existenzielle Gefahr für den europäischen Integrationsprozess darstellen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang:

  • die Stellung der Europäischen Zentralbank zwischen Unabhängigkeit und politischer Einflussnahme,
  • das Verhältnis zwischen dem vergleichsweise reichen Norden und dem wirtschaftlich schwächeren Süden der Europäischen Union,
  • die Rolle der nationalen Volksvertretungen gegenüber dem Europäischen Parlament und
  • allgemein das Verhältnis von demokratischer Beteiligung und übergeordneter Verwaltung

Allein anhand dieser unvollständigen Auf-zählung wird offensichtlich: Die Euro-Krise ist eindeutig mehr als nur eine Krise der Währung. Sie geht ans Eingemachte, an die Substanz des europäischen Gebäudes.

Auch die aufgrund des Misstrauens der Investoren rasant gestiegenen Refinanzierungskosten vieler europäischer Staaten zielen direkt auf diese Grundfragen und verlangen überzeugende Antworten. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Wohl kaum ein Satz vermag die gegenwärtige Situation treffender zu umschreiben als dieser Ausspruch des Staatsrechtlers Carl Schmitt. Die Finanzmärkte haben sich in diesem Sinne als neuer „Souverän“ zu den Wählern gesellt, der die europäische Politik in einen kollektiven Ausnahmezustand versetzt hat. Die Finanzmärkte zwingen die Regierungen dazu, sich wieder stärker auf ihre Kernkompetenz zu besinnen und im eigentlichen Sinne „Politik“ zu machen, wie sie Otto Suhr als „Kampf um die rechte Ordnung“ definiert. Nachdem man sich lange Zeit der Hoffnung hingegeben hat, dass sich die Probleme mit Brandmauern, Rettungsschirmen und Garantiefonds lösen lassen, sind nunmehr echte, strukturelle Reformen gefragt. Erforderlich ist ein großer Wurf – und das ist gut.

Alle Beteiligten sind sich darüber im Klaren, dass rasch eine Lösung gefunden werden muss. Eine konstruktive Diskussion über Lösungsansätze ist jedoch nicht zuletzt durch Äußerungen erschwert worden, nach denen Europa scheitern muss, wenn der Euro scheitert – und dass dieser Fall bereits bei Ausscheiden eines kleinen Landes wie Griechenland zwingend eintreten würde. Zu einer Versachlichung haben solche Äußerungen wenig beigetragen. Zumal an anderer Stelle zu Recht zu Protokoll gegeben wurde, dass es bei der Rettung des Euro keine Denkverbote geben dürfe.

In der Tat sagt uns der gesunde Menschenverstand, dass es immer Alternativen gibt. Sogar ein Europa ohne Euro ist denkbar bzw. muss nicht automatisch den Untergang des Abendlandes nach sich ziehen – aber: Über die gravierenden Konsequenzen und den hohen Preis dieser Alternative sollten wir uns keine Illusionen machen.

Ebenso wenig Illusionen jedoch dürfen wir uns über die Kompromisse machen, die uns die Rettung des Euro abverlangen wird. „Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind“, so hat es einst Aristide Briand formuliert. Soll der Euro gerettet werden, werden wir einen solch vollkommenen Kompromiss benötigen, der allen Beteiligten schmerzhafte Zugeständnisse abverlangt.

Dies gilt für Deutschland, wenn es trotz der obersten Priorität der Haushaltssanierung um Wachstumsimpulse und Gestaltungsformen einer gemeinsamen Haftung geht. Aber dies gilt auch für andere Länder, wenn es um die von Frau Merkel zu Recht zentral positionierte Forderung nach stärkeren, für alle Euroländer verbindlichen Kontrollmechanismen zur Konsolidierung der Haushalte geht. Deutschland muss sich mit dieser Forderung nicht nur in seinem ureigenen, sondern gerade auch im gemeinsamen europäischen Interesse durchsetzen. Eine Verwässerung dieser Forderung bei gleichzeitiger Ausweitung des Prinzips der gemeinschaftlichen Haftung würde nicht nur zu einer Schwächung des Wirtschaftsstandortes Deutschland führen, sondern auf europäischer Ebene unweigerlich eine „Konvergenz nach unten“ zur Folge haben. Deutschland gehört aber zu den wenigen an den Finanzmärkten noch glaubwürdigen Ankern des europäischen Wirtschaftsraumes. Eine Beschädigung dieses Status kann daher auch nicht im Sinne seiner europäischen Partner sein!
Für sie kann es in der gegenwärtigen Situation nur ein Ziel geben: Sie müssen wirtschaftlich aufholen – Boden gutmachen. Und gerade hierbei wird Deutschland sie unterstützen müssen.

Konvergenz nach oben“ muss das gemeinsame Ziel sein. Denn die Grundannahme, die hinter dem zu häufig fatalistisch verwendeten Begriff der „Schicksalsgemeinschaft“ steht, ist richtig: Der Wettbewerb der Wirtschaftsräume findet global statt und nicht zwischen dem Norden und dem Süden bzw. Westen Europas. Eine „Konvergenz nach oben“ aber kann nur erreicht werden, wenn wir uns in Europa wieder stärker auf den Grundgedanken des europäischen Binnenmarktes zurückbesinnen. Schließlich wurde die EWG als Vorgängerin der EU in der festen Überzeugung gegründet, dass nach den Schrecken des Holocaust und in Anbetracht der sowjetischen Bedrohung die Zukunft nur dann erfolgreich gestaltet werden kann, wenn die europäischen Staaten auf die Prinzipien des freien Wettbewerbs und des gemeinsamen Marktes bauen. Auf dieser Grundlage ist im Lauf der Jahrzehnte eine starke partnerschaftliche Gemeinschaft entstanden. Doch jede Partnerschaft kann auf Dauer nur dann funktionieren, wenn alle dazu bereit sind, ihr Bestes zu geben – und nicht nur das Beste von anderen zu nehmen.

Es gibt keinen besseren Nährboden für unsere Ideen und Problemlösungen als unsere offene Gesellschaft mit offenen Märkten und freiem und fairem Wettbewerb.“ Joachim Gauck hat diesen Satz mit Blick auf die Herausforderung durch die Energiewende gesprochen. Doch dieser Satz gilt in meinen Augen ebenso für die Bewältigung der Euro-Krise.

Und damit komme ich wieder zu der eingangs von mir gestellten Frage zurück: Was kann uns in der derzeitigen Situation Hoffnung für Europa und für den Euro geben?

Es ist die Überzeugung, dass wir als Europäer tatsächlich gemeinsam aus dieser Krise lernen können. Dass es uns gelingen wird, uns lernend zu wichtigen Entscheidungen durchzuringen und Neues zu unternehmen. Zu viel ist in den letzten Jahren gemanagt worden. Zu sehr ist man darum bemüht gewesen, Dinge möglichst richtig zu machen, anstatt die richtigen Dinge zu wagen. Zu häufig ist herumgewurschtelt worden, in der Hoffnung, dass sich im großen Zusammenspiel und in einem intensivierten globalen Wettbewerb schon alles irgendwie fügen möge.

Heute gilt es, das europäische Projekt mitsamt Einheitswährung wieder stärker als das wertzuschätzen, was es ist: eine in der Historie einmalige Chance! Doch diese Chance muss immer wieder neu ergriffen und aktiv gestaltet werden – durch den persönlichen Einsatz und die Tatkraft aller Beteiligten. Europa muss wieder mehr „um seiner selbst willen“ gestaltet werden. Denn es hat mehr verdient, als nur eine Projektionsfläche für die Ängste seiner Mitgliedsstaaten und Bürger zu sein.

Auf der Tagung des Europäischen Rates in der kommenden Woche müssen sich die Verantwortlichen im Interesse der Bürger Europas deshalb zu einer gemeinsamen Lösung durchringen. Sie sollten sich dabei einen Satz von Seneca in Erinnerung rufen, den viele Unternehmer in ihrer täglichen Arbeit beherzigen: „Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil wir sie nicht wagen, sind sie schwierig.

Ich frage Sie: Was könnte ein besserer Leitgedanke für die Bewältigung der aktuellen Herausforderung sein?

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

eine Herausforderung, der wir uns im Kuratorium der Johanna-Quandt-Stiftung jedes Jahr gerne stellen, ist die Auswahl der Preisträger des Herbert Quandt Medien-Preises. Der Herbert Quandt Medien-Preis wird alljährlich für herausragende Leistungen im Wirtschaftsjournalismus vergeben. Mit Blick auf die fortdauernde Krise des Euro und vieler Staatshaushalte der westlichen Welt erscheint es uns wichtiger denn je, mit dieser Auszeichnung zugleich auf das hohe Gut eines qualitativ hochwertigen Wirtschaftsjournalismus hinzuweisen. Zumal in Zeiten, in denen Wirtschaftsredaktionen gezwungen sind, ihre Ressourcen immer weiter zu beschränken – auch im Hinblick auf die immer wichtiger werdende Berichterstattung über Europa.

Hiermit kommen wir zum eigentlichen Zweck des Abends. Ich freue mich darauf, dass nun Herr Dr. Reitze die Gelegenheit hat, Ihnen im Rahmen seiner Laudatio die Preisträger vorzustellen und Ihnen zu erläutern, warum das Kuratorium gerade diese vier Beiträge aus den insgesamt 337 Einsendungen für den Herbert Quandt Medien-Preis 2012 ausgewählt hat.