Rede Stefan Quandt 2007
Rede Stefan Quandt 2007

Brücken bauen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich einige eigene Gedanken zum Thema „Wissenschaft und Lehre“ mit Ihnen teilen. Das heißt, eigentlich liegt mir daran zu beschreiben, wie Wissenschaft und Lehre mit dem dritten großen Segment, das die Gesellschaft und die Zukunft unseres Landes bestimmt – nämlich der Wirtschaft –, zusammenwirken sollten.

Die meiste Zeit in der Geschichte waren sich die Welten der Universitäten, getragen vom Gedanken der Freiheit und Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung, und der Wirtschaft, ihrerseits dominiert von der Nutzenoptimierung zwecks maximaler Gewinnerzielung, vollkommen fremd. Seit vielen Jahren bewegt man sich aber schon aufeinander zu, wie viele gemeinsame Forschungsprojekte und die Höhe der damit verbundenen Drittmittelzuwendungen vor allem an technischen Universitäten zeigen.

Und in der jüngsten Vergangenheit muss man konstatieren, dass die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder in diesem Sinne noch einiges mehr in Bewegung gebracht und beschleunigt hat: Wettbewerb und Leistungsorientierung halten Einzug in die deutschen Hochschulen. Und so sind in der deutschen Hochschullandschaft auch deutliche Unterschiede in Angebot und Qualität sichtbar geworden. Damit ist die Lebenslüge von der qualitativen Gleichheit aller deutschen Universitäten endgültig verabschiedet worden. Das allein ist ein großer Erfolg!

Wettbewerb, Exzellenz und Leistungsorientierung sind klassische Zielvorgaben aus der Wirtschaft. Der Forderung an die Hochschulen, sich an diesen Vorgaben zu orientieren und damit in sich wirtschaftsnäher zu werden, wird auf breiter Basis nicht mehr widersprochen.

Die Universitäten greifen die Ausbildungswünsche und Bedürfnisse der Unternehmen mittlerweile aktiv auf. Die Berücksichtigung der auf dem Arbeitsmarkt erforderlichen Kompetenzen und Qualifikationen in den Studiengängen gehört vielerorts selbstverständlich zu den Aufgaben der Lehre.

Es wächst auch die Zahl der Professoren, die ihre Studenten als Kunden sehen und mit Serviceversprechen wie schneller Klausurkorrektur, persönlicher Betreuung und Jobvermittlung gezielt ansprechen. Es liegt ja auch auf der Hand: Wenn die Studenten Studiengebühren zahlen müssen – und sei es auch nur in der derzeitigen Höhe eines „Unkostenbeitrags“ –, dann erwarten sie von der Uni auch eine attraktive Gegenleistung.

Damit sind wir bei der zentralen Frage: Was kann die Universität, was soll sie leisten? Und für wen? Die Antworten auf diese Fragen berühren im Kern das Selbstverständnis unserer Universitäten, weshalb um die in der heutigen Welt ‚richtige’ Antwort teils auf das Heftigste gestritten wird.

Fangen wir daher auf sicherem Terrain an: Universitäten haben traditionell zwei wichtige Funktionen innerhalb der Gesellschaft, die beide unbestritten und notwendig sind:

  • Zum einen betreiben sie exzellente Forschung im Sinne der Wissenschaft. Sie schaffen damit grundsätzlich neues Wissen und fördern dessen Verständnis.
  • Zum anderen lehren sie ihr Wissen und bilden die künftige Generation der Eliten am jeweiligen wissenschaftlichen Gegenstand aus. Unsere Universitäten bilden damit also Menschen aus, die in den Schlüsselbereichen des menschlichen Zusammenlebens – und dazu zählen Wirtschaft, Technik, aber auch Gesundheit, Schule, Kultur und Politik – Verantwortung übernehmen und in neuen Wissenswelten Orientierung geben.

Forschung und Lehre, die klassischen Disziplinen der Universitäten, sind damit allgemein definiert. Aber angesichts knapper finanzieller Ressourcen des Bundes und vor allem der Länder müssen sich die Universitäten zunehmend auch einer weiteren Aufgabe stellen:

  • Das Stichwort ist Fokussierung! Die Universitäten müssen klare Entscheidungen treffen, in welchen Forschungszweigen und Lehrfeldern sie tätig oder gar führend sein wollen und – für viele die weitaus schwierigere Frage – in welchen nicht!

Zunehmend werden diese Entscheidungen wegen der möglichen Einwerbung von Drittmitteln zugunsten von wirtschaftsnahen Forschungsgebieten getroffen. Viele bedauern dies. Ich halte es für richtig.

Natürlich: Die Balance muss gewahrt bleiben. Die Universität muss ihren Kerngeschäften „Forschung und Lehre“ treu bleiben. Sie muss unabhängig und unverwechselbar bleiben und darf auch durch den Praxisbezug ihrer Forschungsthemen und Lehrangebote ihren wissenschaftlichen Anspruch nicht aufweichen lassen.

Aber dennoch würde ich die Aufgabenstellung der Universität mit der allgemeinen Formel beschreiben: „Bei höchster wissenschaftlicher Qualität so wirtschaftsnah wie möglich“. Denn nur auf diesem Wege, nämlich über Ermöglichung industrieller und wirtschaftlicher Nutzung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, kann die Universität der Volkswirtschaft des Landes, das sie finanziert, etwas zurückgeben.

Lassen Sie mich dies verdeutlichen.

Immer lauter wird bei uns die Forderung erhoben – und ich schließe mich dem ausdrücklich an –, künftig mehr Innovationen und Erfindungen im eigenen Land umzusetzen und marktfähig zu machen. Diese Forderung ist eine Reaktion auf eine Reihe von Innovationen, die durch deutsche Forschung ermöglicht, deren Marktchancen aber in anderen Ländern erkannt und realisiert wurden:

  • Ein oft zitiertes Beispiel: Bereits in den 80er Jahren haben Forscher am Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen den Standard für die Kompression von digitalen Musikstücken entwickelt. Die deutschen Hersteller von Unterhaltungselektronik winkten ab; der digitale Rundfunk wurde nicht als Marktchance erkannt, und vom Internet war noch nicht die Rede. Als das Internet dann aber Einzug in alle Haushalte hielt, war es der amerikanische Konzern Apple Ende der 90er Jahre, der mit dem MP3-Player iPod ein Produkt entwickelte, das weltweit ankam. Der Trick des Marketinggenies Steve Jobs: schickes Design und eine intuitive Bedienung.
  • Oder nehmen wir den Hybridmotor: 1973, also zur Zeit der ersten großen Ölkrise, hatten Ingenieure der TH Aachen einen VW Bully entwickelt, der wahlweise mit Otto- oder Elektromotor fuhr. Im Jahr 2000 präsentierte ein japanischer Automobilhersteller ein Hybridfahrzeug, das – wissenschaftlich betrachtet – in der konkreten Umsetzung eine lausige Energiebilanz ausweist. Aber: Mit großem Marketingaufwand wurde das Fahrzeug als „Green Car“ positioniert und damit im Handumdrehen zum Ökoliebling der vorwiegend kalifornischen Herzen. Die deutsche Autoindustrie hat nun die undankbare Aufgabe, ihre für die meisten Nutzungsprofile derzeit viel effizienteren innermotorischen Lösungen den verunsicherten Kunden zu vermitteln. An dieser Stelle sei übrigens noch gesagt, dass die auf falschen Annahmen oder maximal Halbwissen basierten Äußerungen deutscher Politiker zum Thema alles andere als hilfreich waren.
  • Letztes Beispiel: Siemens. In Computern von Siemens-Nixdorf kam 1996 mit dem 256-Megabit-Chip eine echte Sprunginnovation auf den Markt. Drei Jahre später ging Siemens-Nixdorf in einem Gemeinschaftsunternehmen mit der japanischen Fujitsu auf, das heute international bedeutungslos ist. Nach dem Teilrückzug aus der Computertechnik kam mit Fernsehgeräten und Stereoanlagen derjenige aus der Unterhaltungselektronik. Zuletzt folgte die Kapitulation im Bereich Handys. Der deutsche Technologiekonzern Siemens, in vielen industriellen Bereichen führend, ist aus dem so genannten „B2C“, dem Business to Consumer-Segment, fast verschwunden.

Der Befund ist eindeutig: In Deutschland entstehen tolle Ideen, Geld damit aber verdienen meistens andere. Insbesondere dort, wo neben den rein technischen Produkteigenschaften auch Marketing und Emotionen verkauft werden müssen, wird die deutsche Luft dünn. „SPIEGEL Online“ hat es in einem Beitrag vor kurzem auf den Punkt gebracht:

„Deutsche Tüftler sind Weltmeister bei Ideen, aber Amateure in der Umsetzung.“

Deutschland ist das Land der Ideen – das ist eigentlich ein guter Startpunkt. Nimmt man die Einwohnerzahl zum Maßstab, ist kein Land der Erde kreativer: 2006 sind beim Deutschen Patent- und Markenamt 60.500 neue Patente angemeldet worden. 25.000 Patente von Einzelpersonen und Unternehmen wurden beim Europäischen Patentamt in München eingetragen. Auch international sieht es gut aus: Die World Intellectual Property Organization (WI-PO) führte Deutschland mit einem Anteil von zwölf Prozent aller Patentanmeldungen 2005 auf Platz drei hinter den USA und Japan.

Leider steht der erfreulichen Patentsituation keine unmittelbare Beschäftigungswirkung gegenüber. Wir stellen mit Unbehagen fest, dass die steigende Produktivität in vielen produzierenden Branchen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen einhergeht. Schon lassen sich Gesellschaftswissenschaftler wie der Soziologe Ulrich Beck von neuem mit der alten These vernehmen, der Kapitalismus schaffe die Arbeit ab. Das Schreckgespenst einer Industriegesellschaft, der die Arbeit ausgeht, geht wieder um.

Aber geht uns die Arbeit aus? Die Antwort ist Nein und Ja, oder genauer: kurzfristig Nein, langfristig Ja.

Kurzfristig gibt es im Prinzip genug Arbeit, und zwar im Bereich einfacher Dienstleistungen. Warum sonst verrottet Spargel wegen Mangel an Erntehelfern auf den Feldern? Oder warum melden sich bei einem regionalen Test der Bundesagentur für Arbeit in Ostdeutschland die Hälfte der Erwerbslosen aus der Arbeitslosigkeit ab, statt zu einer einwöchigen Pflichtveranstaltung zu erscheinen? Diese Menschen hatten offensichtlich Besseres, d. h. „besser schwarz Bezahltes“ zu tun. Woran es im Dienstleistungsbereich mangelt, ist also nicht Arbeit, sondern es sind Strukturen, in denen sich Arbeit in diesem Bereich bezahlbar, attraktiv und produktiv gestalten lässt. Diese Strukturen müssen dringend geschaffen werden.

Aber dies allein ist langfristig nicht ausreichend. Denn ein Land und seine Bürger können auf Dauer nicht überleben, indem quasi im Umlaufverfahren einfache Dienstleistungen erbracht werden. Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, dass es uns gelingen muss, eine gesunde industrielle Basis langfristig im Land zu erhalten. Und erhalten heißt, diese Basis täglich zu erneuern.

Dabei weicht die öffentliche Diskussion in Deutschland immer noch der Frage aus, wo genau denn neue Arbeit entsteht. Dabei ist doch klar: Neue Arbeitsplätze entstehen nicht dort, wo die alten verloren gegangen sind. Neue Arbeit entsteht durch Innovationen – und deren Vermarktung.

Meine Damen und Herren,

nur wenn aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen innovative Produkte mit internationalen Marktchancen entstehen, können diese aufgrund des Wissensvorsprungs zu Investitionen und damit zu Arbeitsplätzen in Deutschland führen, die nicht dem Weg des geringsten Lohnniveaus folgen müssen.

In Deutschland wird aber leider jedes vierte Patent nicht zur Marktreife entwickelt. Angst vor dem Wagnis, umstrittene Marktfähigkeit, eine latente Technikfeindlichkeit im Lande, schlicht fehlendes Geld oder eine beliebige Kombination davo, sind häufig genannte Gründe.

Ich behaupte, es fehlt den Wissensträgern schlicht oft an Interesse, bestenfalls am Verständnis, wie man technisches Wissen vermarktet.

Wenn wir aber wollen, dass aus den vielen in Deutschland erworbenen Patenten attraktive Produkte und Dienstleistungen mit Beschäftigungspotenzial ebenfalls in Deutschland entstehen, können wir uns diese Haltung nicht mehr leisten!

Es stellt sich also die Frage: Wie kann es gelingen, die Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft oder genauer gesagt, zwischen Wissenschaftlern und Marktwirtschaft auszubauen?

In diesem Zusammenhang möchte ich eine Idee in den Raum werfen: Wie wäre es zum Beispiel mit einem Hochschulinstitut einer technischen Universität, das sich konsequent mit der Systematisierung der marktwirtschaftlichen Verwertung von Wissen befasst? Ein Institut also, dessen Dozenten ein fundiertes Handwerkszeug vermitteln, wie das marktwirtschaftliche Potenzial einer neuen wissenschaftlichen Erkenntnis ausgelotet, strategisch bewertet und operativ umgesetzt werden kann?

Absurd? Ich denke nicht. Viele Unternehmen bemühen sich heute um die Systematisierung ihrer Innovationsfähigkeit. Sie stellen sich die Frage: Wie schaffe ich es, durch kontinuierliche Innovationen ein Produkt in einem gegebenen Marktsegment attraktiv zu halten? Was spricht dagegen, spiegelbildlich an einem universitären Institut zu erforschen und zu lehren, wie man ein gegebenes Forschungsergebnis, neues Wissen oder Patent erfolgreich zu einem marktfähigen Produkt macht oder in ein solches integriert?

Die Schaffung eines solchen Instituts würde an der Grundeinstellung von Wissenschaftlern und Ingenieuren ansetzen und überzeugend vermitteln, dass es nicht ausreicht, sich allein an einer tollen Entdeckung oder an der Eleganz einer Lösung zu erfreuen. Es würde dafür eintreten, dass die Idee und die Nutzung der Idee nicht entkoppelt werden dürfen, sondern im Form von Erfindung und Tatkraft zusammenwirken müssen.

Wir hätten damit eine Chance, dass Ideen und Patente in den Köpfen deutscher Wissenschaftler und Ingenieure als wichtiger Rohstoff begriffen werden, der zu Produkten veredelt werden muss – nicht zuletzt zur Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft dieses Landes.

Meine Damen und Herren,

interessanterweise hat aber vor kurzem sogar der Wissenschaftsrat – übrigens das erste Mal seit zwanzig Jahren – mit Sorge darauf hingewiesen, dass Deutschland zwar eine hervorragende Forschung hat, dass deren Früchte aber – vor allem im Vergleich mit den USA – zu selten in gute Geschäfte münden. Daher muss in wissenschaftlichen Kreisen ganz allgemein verinnerlicht werden:

  • Wissenschaftler, die mit ihrer Forschung einen Beitrag zur Schaffung von neuen Produkten und damit Arbeitsplätzen leisten, verstoßen nicht gegen den Grundsatz der Freiheit der Wissenschaft.
  • Universitäten, die junge Menschen auf konkrete Bedarfe der Volks- und Marktwirtschaft hin ausbilden, verstoßen nicht gegen das Ethos der Wissenschaftlichkeit.

Um dies zu ändern, müssen Universitäten und Forschungsgesellschaften zukünftig eine klare Strategie entwickeln und deutlich machen, in welchen Wissenschaftsbereichen sie welche Leistungsfähigkeit besitzen, d. h. wo sie Grundlagenforschung betreiben, wo sie potenziell marktwirtschaftlich nutzbare Ergebnisse produzieren können, und wo, wie und unter welchen Bedingungen sie mit Unternehmen kooperieren wollen.

Einer, der diese Grundsätze an seiner Universität zum Credo gemacht hat, ist heute Abend unser Festredner. Lieber Herr Professor Hippler, Sie haben nach dem Diplomstudium der Physik in Göttingen an der Ecole Polytechnique Fédérale in Lausanne promoviert, danach haben Sie am IBM-Research Laboratory in den USA gearbeitet und waren als wissenschaftlicher Assistent und Teilprojektleiter in einem Sonderforschungsbereich an der Universität Göttingen tätig. 1988 wurden Sie dort dann habilitiert. Sie sind seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Molekulare Physikalische Chemie an der Universität Karlsruhe. Und seit 2002 stehen Sie der Universität als Rektor vor.

Darüber hinaus sind sie seit der Gründung im Jahre 2001 Präsident der TU9, in der sich die neun größten deutschen technischen Universitäten zusammengeschlossen haben, sowie Vorsitzender der innerhalb der Hochschulrektorenkonferenz tätigen Arbeitsgemeinschaft Technischer Universitäten und Hochschulen.

Sehr geehrter Professor Hippler, als Mitglied des Verwaltungsrats Ihrer Universität habe ich Sie als einen veritablen „Change Maker“ kennengelernt. Ihnen ist Veränderung kein Fremdwort, sondern Berufung und Pflicht zugleich.

Sie wollen Ihre Fridericiana fit für die Zukunft im internationalen Wettbewerb der Hochschulstandorte machen. Mit dem KIT, dem Karlsruhe Institut für Technologie, entwickeln Sie zur Zeit eines der wichtigsten Leuchtturmprojekte der deutschen Wissenschaftslandschaft. Ich bin nun gespannt auf Ihre Ausführungen und darf Sie um Ihr Wort bitten!