Rede Stefan Quandt 2014
Rede Stefan Quandt 2014

"TTIP ist die logische Konsequenz aus dem Erfolg von EU und NAFTA"

Sehr verehrte Damen und Herren,

das Jahr 2014 wird geprägt von der Erinnerung an einen der größten Wendepunkte der Geschichte. Was mit Beginn des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 über Europa und die Welt hereinbrach, war kurz zuvor angesichts des technischen Fortschritts und der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung in Europa noch als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen.

Ein Zeitgenosse erinnerte sich in späteren Jahren an die Verhältnisse in Europa vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wie folgt:

„Damals konnte man ungehindert ohne Pass in alle europäischen Länder (Russland ausgenommen) reisen. … Man konnte an den Schalter irgendeiner deutschen Bank gehen und erhielt gegen eine Gebühr von nur zwei Prozent Reiseschecks, die auf 100 Reichsmark oder 123 französische Francs oder 123 italienische Lire … oder z.B. auf vier Pfund 17 Schilling lauteten und in allen Ländern vollgültige Zahlungsmittel waren. Onkel Draeger konnte in Cannes oder später in Territet jahrelang wohnen, ohne je eine Genehmigung oder Erlaubnis einholen zu müssen. Jeder durfte in Wort und Schrift sich frei und ungeniert äußern und entfalten. Die Zeit vor 1914 war … wirklich eine gute Zeit!“ 

Die Erinnerung an frühere Zeiten ist nie frei von Verklärung. Und so verklärt sicher auch mein Großvater – denn aus seinen Erinnerungen stammen die vorgenannten Zeilen – die Zeit vor 1914. Und doch bringen diese Zeilen zum Ausdruck, wie groß der zivilisatorische Bruch war, den der Erste Weltkrieg darstellte: der erste industriell geführte Krieg der Menschheitsgeschichte, der insgesamt 17 Millionen Menschen – über neun Millionen Soldaten und acht Millionen Zivilisten – das Leben kostete.

Das Ereignis des Ersten Weltkrieges wird von vielen Fachleuten als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Der Historiker Ulrich Wehler deutet diesen Krieg als gewaltigen „Transformator“, der alle beteiligten Völker mit ihrer Wirtschaft und Sozialstruktur, ihrer Staatsverfassung und Innenpolitik, ihrer Mentalität und Wertewelt tiefer verändert habe als jedes andere europäische Großereignis seit 1789.

Erfahrung, Verlauf und Ausgang dieses Krieges haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wir alle wissen heute, dass ein Krieg im Herzen Europas kein drittes Mal stattfinden darf. Und dass wir alle hierfür gemeinsam die Verantwortung tragen.

Das Jahr 2014 ist in diesem Zusammenhang aber nicht nur ein Jahr der Erinnerung. Das Jahr 2014 zwingt uns vielmehr dazu, uns eben dieser Verantwortung in sehr konkreter Weise aufs Neue zu stellen. Die Ereignisse in der Ukraine lassen uns erkennen, dass in Europa nach wie vor Konfliktpotenzial vorhanden ist.

Wer hätte denn gedacht, dass der schnelle, aber friedliche Annäherungsprozess zwischen der Ukraine und der EU eine Spirale der Gewalt auslösen würde? Und wer hätte noch vor einem Jahr für möglich gehalten, dass in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Grenzlinien mit militärischen Mitteln verschoben werden?

Dass in diesem denkwürdigen Jahr internationale Eckpfeiler in Bewegung geraten sind, zeigen aber auch zwei rein wirtschaftliche Abkommen:

Russland und China haben für 30 Jahre einen Gasliefervertrag geschlossen, der uns einmal mehr vor Augen führt, wie gefährdet unsere Energieversorgung ist. So hat Ministerpräsident Medwedjew verlauten lassen, „dass eine Umorientierung der Gasexporte von Europa nach China durchaus möglich ist“.

Darüber hinaus erfolgte Ende Mai die Gründung der Eurasischen Union, die als Putins Gegenentwurf zur Europäischen Union bezeichnet worden ist. Bei Unterzeichnung der Gründungsurkunde wurde der für den ukrainischen Präsidenten vorgesehene Platz demonstrativ freigehalten!

In dieser kritischen Phase besteht für die Europäische Union die Notwendigkeit, sich zu positionieren! Es ist notwendig, dass wir über unseren zukünftigen Weg nachdenken – und entsprechende Entscheidungen treffen. Dass dieser Weg in Zeiten der Globalisierung nicht im Alleingang beschritten werden kann – darüber dürften wir uns alle einig sein.

Denn wir können nicht die Augen davor verschließen, dass viele Länder derzeit mit bilateralen Abkommen ihre wirtschaftliche Position in der Welt festigen und ausbauen wollen. Und auch die Europäische Union wird ihr Versprechen von Frieden, Freiheit und Wohlstand für kommende Generationen nur dann erfüllen können, wenn sie mit anderen Staaten bzw. Wirtschaftsräumen kooperiert und Partnerschaften eingeht.

Vor diesem Hintergrund sind die Pläne zur Schaffung einer transatlantischen Freihandelspartnerschaft – kurz TTIP genannt – eine wichtige und wegweisende Weichenstellung. Wenn die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende geführt werden können, würde mit TTIP der größte Binnenmarkt der Welt mit gut 830 Millionen Menschen entstehen. Die USA und die EU erwirtschaften bereits heute gemeinsam fast die Hälfte des globalen Bruttosozialproduktes. Wir tauschen mit den Amerikanern Waren und Dienstleistungen im Wert von 800 Milliarden Euro pro Jahr aus. Von der Beseitigung der gegenseitigen Handelshemmnisse würden beide Seiten enorm profitieren.

Dabei teile ich nicht die Meinung derer, die in TTIP einen wirtschaftlichen Verteidigungspakt, eine Art „Wirtschafts-NATO“ gegen China sehen. Wer TTIP so versteht, für den ist dieses Abkommen nur eine Art „Protektionismus 2.0“: ein Abkommen, gerichtet gegen ein Land, vor dem man sich schützen möchte, weil man dessen Effizienz und zukünftiges Entwicklungs­potenzial fürchtet. Für mich ist TTIP etwas ganz anderes: Sie ist die logische und überfällige Konsequenz aus dem Erfolg von EU und NAFTA. Und sie ist damit ein weiterer großer Zwischenschritt auf dem Weg zu globalem Freihandel, der eines Tages auch China und weitere Länder Asiens mit einschließen sollte.

Natürlich könnte man an diesem Punkt anführen – und manche tun dies auch –, dass man, statt TTIP zu verhandeln, all diese Themen doch gleich auf Ebene der WTO diskutieren und entscheiden sollte. Nun, für Idealisten ist es sicher eine Option, auf eine entsprechende multilaterale Einigung zu warten. Aber als Realist beobachte ich die während der „Wartezeit“ weltweit zunehmende Verbreitung bilateraler Handelsabkommen mit großer Sorge. In der Summe stimme ich deshalb dem zuständigen EU-Kommissar, Karel de Gucht, zu, der über seine Ziele bei der Verhandlung der TTIP sagt: „Ich will keine Mauer um China bauen. Aber was ich auch nicht will, ist, dass China eines Tages eine Mauer um uns bauen kann.“

Trotz der Vorteile, die auf der Hand liegen, werden die Verhandlungen schon seit geraumer Zeit von einer kontroversen Debatte begleitet, insbesondere hier bei uns in Deutschland. Dass ein wegweisendes Abkommen wie TTIP öffentliches Interesse weckt, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Aber es ist bedauerlich, dass sich die öffentliche Diskussion auf das „Chlorhuhn“ – das definitiv nicht nach Europa kommen wird – verengt hat. Und auch das Ausmaß und die Art der Diskussion zu diesem und anderen Randthemen sind überraschend, ja irritierend, da in der Debatte Argumente auftauchen, die aus meiner Sicht nur schwer nachvollziehbar sind.

Besonders auffällig ist, wie gebetsmühlenhaft die Gegner von TTIP ihre Vorwürfe gegen das Abkommen erneuert haben. Dabei hat die EU-Kommission zu jedem dieser Vorwürfe – sei es die angeblich drohende Absenkung von Verbraucherschutzstandards oder der Investitionsschutz – detailliert Stellung bezogen. Das Gros der Vorwürfe konnte überzeugend entkräftet werden.

Die Netzkampagnen gegen TTIP laufen dennoch weiter auf Hochtouren, wobei immer wieder Ängste und Ressentiments geschürt werden. Getreu dem Motto: Vorurteile machen das Campaigning leichter! Ein solches Verhalten steht für mich exemplarisch für eine Entwicklung, die Bundestagspräsident Norbert Lammert unlängst als „Entertainisierung von allem und jedem“ bezeichnet hat. Skandalträchtige Schlagzeilen ersetzen die Analyse. Die internetgetriebene Schnelligkeit macht jeder Gründlichkeit den Garaus. Eine konstruktive öffentliche Debatte droht bei TTIP leider nicht mehr stattzufinden. Mit fatalen Konsequenzen: Denn vielleicht setzt sich nun eine kleine überengagierte Interessengruppe zum Nachteil der schweigenden Mehrheit durch.

Dabei ist aus meiner Sicht bereits die Annahme, dass grundlegende europäische Werte sowie Standards und Normen durch TTIP zur Disposition stünden, falsch. Diese Wahrnehmung beruht doch auf der Überzeugung, dass sich Werte und Wirtschaftsinteressen stets gegenüberstehen müssen. Dass dies nicht zutrifft, zeigt die europäische Einigung: Diese wurde – gerade weil sie die Verständigung und Friedenssicherung in Europa zum Ziel hatte – ganz bewusst mit einem Integrationsprozess auf Wirtschaftsebene begonnen.

„Frieden durch Freihandel“ – diese Überlegung stand am Anfang des Einigungsprozesses, der von der Gründung der Montanunion im Jahre 1951 bis hin zur Schaffung einer Währungsunion verschiedene Entwicklungsstadien durchlaufen hat. Die europäischen Werte, für die wir heute einstehen, sind wesentlich durch wirtschaftlichen Austausch und den Abbau von Handels­schranken entstanden. Hiermit einherging die Angleichung von Normen und Standards, wie sie auch jetzt wiederum im Zusammenhang mit TTIP diskutiert werden.

Die angebliche Unvereinbarkeit von Normen und Werten auf der einen und Wirtschafts­interessen auf der anderen Seite ist vor dem Hintergrund der historischen Betrachtung also nicht zu halten. Das Gros der europäischen Normen und Standards, die es jetzt gegen die vermeintlichen Interessen der US-amerikanischen Industrie zu verteidigen gilt, ist von den europäischen Staaten im Zuge des wirtschaftlichen Integrationsprozesses ausgehandelt und definiert worden – ohne dass dies zu einem „Race to the Bottom“ geführt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Warum sollte sich diese Entwicklung nun aber ausgerechnet in den Verhandlungen mit den USA umkehren?

Bei der ganzen Diskussion wird zudem allzu leichtfertig davon ausgegangen, dass die europäischen Standards immer die besseren bzw. höheren sind. Europäischen Unternehmen im Bereich Pharma und Medizintechnik machen aber z. B. die Vorgaben der US-Aufsichtsbehörde FDA wesentlich mehr zu schaffen als diejenigen der europäischen Aufsichtsinstanzen. Und auch der Umstand, dass sich so mancher TTIP-Gegner nun unversehens in einer Allianz mit den europäischen Geflügelmästern wiederfindet, sollte uns zu denken geben!

Ich persönlich bin überzeugt davon, dass TTIP zu keiner Umkehr des Trends hin zu höherer Qualität und mehr Sicherheit führen wird. Im Gegenteil: TTIP wird vielmehr die konsequente Fortführung des europäischen Integrationsprozesses bedeuten. Mit einem solchen Abkommen wird sich die einmalige Chance bieten, europäische Normen und Standards international auf hohem Niveau festzuschreiben. Das Abkommen wird somit sicherstellen, dass die Europäer auch im 21. Jahrhundert von den Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses profitieren können.

Dafür, dass am Ende der Verhandlungen ein für beide Seiten vorteilhaftes Ergebnis stehen wird, spricht nicht zuletzt auch, dass Europa und die USA eine Vielzahl von gemeinsamen Werten und Überzeugungen verbindet. Dies möchte ich betonen: Denn die Kritik derjenigen, die TTIP kategorisch ablehnen, ist häufig von einem latenten Antiamerikanismus getragen, der sich vielfach mit einer diffusen Globalisierungsangst verbindet.

Vorbehalte gegen die USA – Stichwort NSA-Abhöraffäre – mögen in bestimmten Teilbereichen noch erklärbar sein. Dennoch empfinde ich den wachsenden Antiamerikanismus angesichts der Geschichte unseres Landes als befremdlich.

Die Angst vor der Globalisierung hingegen ist nicht nur befremdlich, sondern völlig unverständlich. Die Exportnation Deutschland hat in hohem Maße von der konsequenten Ausrichtung auf die internationalen Märkte profitiert. Deutschland steht heute eindeutig als ein, wenn nicht als der Gewinner der Globalisierung da.

Grundlage dieses Erfolges sind zahlreiche Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, die unser Land entweder bilateral mit anderen Staaten oder als Mitglied der Europäischen Union abgeschlossen hat. Was wenige wissen: Der jetzt so scharf kritisierte Investitionsschutz ist von Deutschland erfunden worden: 1959 wurde ein erster entsprechender Vertrag mit Pakistan unterzeichnet. Bis heute folgten insgesamt 141 weitere Abkommen. Keines dieser Abkommen ist auch nur annähernd so heftig kritisiert worden wie TTIP – was wiederum belegt, dass die Kritik an den Verhandlungen nicht nur von Fakten, sondern auch von vielen Ressentiments genährt wird.

Umso wichtiger ist es, die Potenziale und Chancen herauszuarbeiten, die mit TTIP verbunden sind. Dies gilt insbesondere für den deutschen Mittelstand und seine Schlüsselbranchen, wie z. B. den Maschinen- und Anlagenbau. Wenn in diesen Bereichen die Harmonisierung von Normen und Standards gelingt, kann dies große Mittel für neues Wachstum freisetzen. Denn der Aufwand, den Unternehmen derzeit für den Vertrieb ihrer Produkte in den USA betreiben müssen, ist zum Teil absurd hoch.

„Im Moment produzieren die Maschinenbauer einmal für Amerika und einmal für den Rest der Welt“ – so hat es ein Vertreter des VDMA auf den Punkt gebracht.

Im Falle eines deutschen Herstellers von Elektromotoren und Ventilatoren bedeutet dies konkret, dass sich hier allein 15 Entwickler mit der US-Zertifizierung beschäftigen!

Größere Unternehmen können sich einen solchen Aufwand leisten, auch wenn hierdurch eigentlich Ressourcen gebunden werden, die in Forschung und Entwicklung und damit in die Sicherung ihres Wettbewerbsvorsprungs investiert werden könnten. Als Beispiel sei die Automobilindustrie genannt, in der jährlich Hunderte von Millionen Euro allein zur Anpassung der Fahrzeuge an international unterschiedliche Vorschriften für Emissionswerte und Crashverhalten ausgegeben werden.

Für kleinere Unternehmen hingegen bedeuten abweichende Standards und damit doppelte Zulassungsverfahren schlicht und ergreifend, dass der US-amerikanische Markt für sie verschlossen bleibt.

Auch, und gerade in ihrem Interesse, müssen „Abrüstungsverhandlungen“ geführt und Normen angeglichen werden, von denen nicht wenige in protektionistischer Absicht eingeführt worden sind. Das Ziel der Gespräche muss lauten: „Tested once, accepted anywhere!“

Trotz aller erklärten Absichten der handelnden Akteure, die Gespräche zu einem guten Abschluss zu bringen, ist TTIP alles andere als ein Selbstläufer. Die Gegensätze zwischen den Interessen der Verhandlungspartner sind groß, die Kataloge unterschiedlicher Vorschriften, die es anzugleichen gilt, dick. Im Hinblick auf die bisher bekannt gewordenen Verhandlungsergebnisse sind bereits etliche Verbesserungen angemahnt worden, sodass selbst bereits erreichte Meilensteine zum Teil wieder infrage stehen. Es ist also derzeit noch völlig offen, ob und wann die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden können.

Umso wichtiger ist es, dass der professionelle Journalismus den in Blogs und auf Twitter höchst aktiven TTIP-Gegnern kein Forum bietet, indem er deren unsachliche oder bereits widerlegte Argumente in die breite Öffentlichkeit trägt – und so deren Wirkung verstärkt. Im Falle des bereits zitierten Chlorhuhns ist dies leider genau so passiert. Es wurde so sehr zum Mainstream der Berichterstattung, dass sich am Ende sogar die Kanzlerin genötigt sah, sich quasi zur Rettung von TTIP persönlich zu diesem Einzelfall zu äußern.

So weit hätte es nicht kommen dürfen. Wie bei allen wichtigen Themen gilt auch für ein für die Zukunft der EU zentrales Abkommen, dass in den Redaktionen darüber unvoreingenommen recherchiert und konstruktiv debattiert wird. Dass die Vor- und Nachteile dem Leser oder Zuschauer verständlich und nachvollziehbar dargelegt werden. Damit dieser sich ein Bild machen und – nach individueller Gewichtung der Argumente – eine eigene Meinung bilden kann.

Die gute Nachricht ist: Auch dies geschieht bereits. Und in einem ganz besonderen Fall sogar in preiswürdiger Form. Aber wie und von wem – Ihnen dies mitzuteilen ist Aufgabe des Laudators. Daher möchte ich an dieser Stelle enden, danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und darf Sie, lieber Herr Tichy, nun auf die Bühne bitten.