Rede Stefan Quandt zum Herbert Quandt Medien-Preis 2019
Rede Stefan Quandt 2019

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vor fast auf den Tag genau einem Monat ist unser Grundgesetz 70 Jahre alt geworden. Konrad Adenauer hat es als Präsident des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 in Bonn verkündet.

Wir können und dürfen mit Freude und auch in Dankbarkeit auf dieses wichtige Datum unserer Geschichte blicken: Unser Grundgesetz garantiert seit nunmehr sieben Jahrzehnten ein Leben in Frieden, Freiheit und auch Sicherheit.

Das Grundgesetz hat – obwohl es keine exakte Festlegung auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung trifft – auch den Grundstein für eine leistungsfähige und innovative Wirtschaft in Deutschland gelegt. Es hat Stabilität gegeben und dadurch eine Verlässlichkeit geschenkt, auf der eine Saat des Vertrauens in die Zukunft aufgehen konnte.

Natürlich wurden in den 70 Jahren unserer bundesdeutschen Verfassung auch immer wieder große und intensive Debatten geführt. Es wurde über die Wiederbewaffnung Deutschlands gestritten. Es wurde über Nachrüstung, den NATO-Doppelbeschluss und die Kernkraft diskutiert. Auch die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme war und ist immer wieder Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen. Und die harten Arbeitskämpfe um die 35-Stunden-Woche Mitte der Neunziger zählen ebenso dazu wie die bis heute andauernde Diskussion über die Energiewende.

Rückblickend kann man sagen: Wir sind mit den Freiheitsgraden und der Offenheit, die unsere Verfassung ermöglicht, in all den Jahren sehr gut gefahren. Dies gilt auch für die Wirtschaft, in der demokratische Wertvorstellungen in Form von Instrumenten der Mitbestimmung und Konzepten des Interessenausgleichs bereits seit den fünfziger Jahren über das Betriebsverfassungsgesetz Eingang in die Unternehmen fanden.

1979 legte schließlich das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil fest, dass Arbeitnehmern das Recht zustehe, angemessen an Unternehmensentscheidungen beteiligt zu werden. Gleichzeitig wurden im Gesetz aber auch die ultimativen Eigentumsrechte der Aktionäre anerkannt und in Form des Doppelstimmrechts des Aufsichtsratsvorsitzenden gewahrt.

Dieses Ergebnis ist, wie auch die Ergebnisse aller vorgenannten Debatten, mit dem Kompass des Grundgesetzes angestrebt, ausgehandelt und erreicht worden.

Umso mehr überrascht es mich, dass wir mit den Diskussionen über Enteignung, Umverteilung und Kollektivierung nun Debatten über Themen führen, die uns vom Geist des Grundgesetzes und damit der Grundlage der deutschen Erfolgsgeschichte entfernen.

Es ist zwar richtig, dass Artikel 15 des Grundgesetzes nicht ausschließt, dass „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ in „Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“ können. Wichtiger als Artikel 15 ist aber der ihm voranstehende Artikel 14. Dieser definiert mit der Eigentumsgarantie nach Ansicht der ganz großen Mehrheit unserer Verfassungskommentatoren einen wesentlichen Kern unserer gesellschaftlichen Grundordnung. Denn er legt in Absatz 2 auch fest, dass der „Gebrauch (von Eigentum) zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll.

Unsere soziale Marktwirtschaft basiert auf genau eben diesen Grundsätzen: Dem Recht auf Privateigentum und der Pflicht zu dessen Nutzung zum Wohle der Allgemeinheit. Und 70 Jahre nach Unterzeichnung des Grundgesetzes besteht kein Zweifel daran, dass private Unternehmen mit im Sinne des Artikel 14 handelnden Eigentümern die Grundlage für den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft und den hohen deutschen Wohlstand geschaffen haben. Heute beschäftigen die 500 größten deutschen Familienunternehmen allein in Deutschland direkt über 2,5 Millionen Menschen. Und zum gesamten Ertragssteueraufkommen unseres Landes tragen die Familienunternehmen über 41 Prozent bei. Somit ist es nicht erstaunlich, sondern logisch und folgerichtig, dass Artikel 15 in den vergangenen 70 Jahren noch nie – selbst in der Finanzkrise nicht – zur Anwendung gelangt ist. 

Aber leider ist genau dieser Artikel in jüngster Zeit Ausgangspunkt für lautstarke und aufgeregte Debatten. Die extremsten Beispiele hierfür sind sicher einzelne Äußerungen aus dem politischen Raum, die direkte und massive Angriffe auf das Eigentum an sich proklamieren; sei es offen als Forderung nach „Enteignung“, wie im Falle von Immobilienbesitzern in Berlin, oder an anderer Stelle nur leicht verklausuliert als Vorschlag der „Kollektivierung“.

Auch der früher als Realpolitiker bekannte ehemalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück erliegt populistischen Gedankenspielen und spricht sich öffentlich für eine Verdoppelung der Erbschaftsteuer aus. Mit der aktuellen Gesetzeslage als Ausgangspunkt wären dies sage und schreibe 60 Prozent! Man kann diskutieren, ob das noch eine Steuer oder doch auch schon eine „Enteignung im Schafpelz“ wäre.

Die Logik hinter all diesen Forderungen ist so simpel und für die Gesellschaft gefährlich wie sie falsch ist! Denn den sogenannten „Reichen“ wird unterstellt, dass ihre Entscheidungen und ihr Handeln einzig der individuellen Vermögensmehrung dient, dabei „Schwache“ ausgebeutet werden und so dem Wohl der Allgemeinheit eher Schaden als Nutzen zugefügt wird. Und es wird unterstellt, dass der Staat als Eigentümer dem Allgemeinwohl besser dienen würde.

Sie mögen sagen, dass es solche extremen politischen Forderungen schon immer gab. Und dass diese auch heute folgenlose populistische Rhetorik bleiben werden. Ich möchte dem widersprechen: Denn der Trend, dass Eigentumsrechte nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert werden, ist auch in Bereichen zu beobachten, in denen man es nicht unbedingt erwarten würde. So sind zwar nicht 60 Prozent, aber für viele Firmensituationen überlebenskritische 30 Prozent als Erbschaftssteuersatz bereits besorgniserregende Realität – eingeführt von einer konservativ geführten Regierung.

Ähnlich bedenkliche Entwicklungen finden auch am Kapitalmarkt statt, für viele der Inbegriff der Marktwirtschaft, um nicht Kapitalismus zu sagen. Hier beschränken Gesetze, aber auch die immer enger gefassten sogenannten „Kodices“ für Unternehmensführung, zunehmend die Freiheiten der Aktionäre und Aufsichtsräte. Die Einschränkung der Aktionärsrechte beginnt bereits bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrates; also bei der Auswahl derer, die die Eigentümer für geeignet halten, ihr Unternehmen zu beaufsichtigen und zu beraten. Denn allgemein darf bei der Besetzung nicht allein auf Eignung, sondern es muss auch auf „Diversität“ und „Unabhängigkeit“ geachtet werden – Ausnahmen werden nicht nur nicht geduldet, sondern hart sanktioniert. Weiter ist die direkte Wahl von ehemaligen Vorständen in das Kontrollgremium heutzutage zwar nicht unmöglich, aber sie wurde mit extrem hohen Hürden versehen. Und für die inhaltliche Arbeit des Aufsichtsrats gibt es immer engere Vorschriften für das vermeintlich „richtige“ Vergütungssystem für den Vorstand.

Unabhängig von der Größe, dem Industriesegment, der Marktsituation, der spezifischen Unternehmenskultur oder auch der Eigentümerstruktur wird also immer häufiger von externen Institutionen definiert, was für alle Unternehmen angeblich die beste Lösung ist – ein „One Size fits all“ der Corporate Governance. Dabei ist die Regierungskommission „Deutscher Corporate Governance-Kodex“ immerhin 2001 vom Justizministerium berufen worden. Ihre sich ständig verändernde personelle Zusammensetzung und ihre inhaltliche Tätigkeit entzieht sich jedoch jeglicher demokratischen Kontrolle.

Vollkommen ad absurdum geführt wird diese Entwicklung aber durch die seit einigen Jahren massiv an Bedeutung gewinnenden sogenannten Stimmrechtsberater.  Dabei ist der Begriff „Berater“ eigentlich irreführend; de facto sind es „Stimmrechtssammler“. Denn die Dienstleistung dieser gewinnorientierten Firmen besteht nicht nur darin, Empfehlungen für das Abstimmverhalten auf Hauptversammlungen börsennotierter Unternehmen zu geben. Vielmehr üben sie das Stimmrecht – also das grundlegende Eigentumsrecht ihrer Kunden – selber aus. Die Abstimmungsergebnisse auf Hauptversammlungen sind damit zunehmend davon abhängig, ob der jeweilige Tagesordnungspunkt den internen Richtlinien der Stimmrechtsberater entspricht.

So spielt in diesen „Voting Guidelines“ die Frage der „Unabhängigkeit“ von Aufsichtsratsmitgliedern eine große Rolle. Glass Lewis als einer der beiden größten Spieler etwa fordert, dass mindestens die Hälfte der Aufsichtsräte der Kapitalseite „keine finanziellen, familiären oder anderen Verbindungen zum Unternehmen“ haben dürfen. Die Firma ISS als Marktführer drängt sogar auf zwei Drittel unabhängige Mitglieder. Ähnliche Guidelines gibt es natürlich auch für Ausschüsse. Eine Betrachtung des Einzelfalls, also die Berücksichtigung etwa der handelnden Personen oder der spezifischen Unternehmenssituation, erfolgt selten oder nie.

Ein absurdes Beispiel, wohin diese streng regelbasierte Herangehensweise führen kann, durfte ich aus nächster Nähe auf der jüngsten BMW-Hauptversammlung miterleben: Denn beide vorgenannten Stimmrechtsberater empfahlen für die Tagesordnungspunkte der Wahl meiner Schwester und mir in den Aufsichtsrat eine „Ablehnung“ und übten die eingesammelten Stimmrechte entsprechend aus.

Ich darf die Zusammenhänge noch einmal pointiert zusammenfassen: 

  • Professionelle institutionelle Investoren sehen sich nicht in der Lage, ihr Stimmrecht als elementares Eigentumsrechts selbst informiert wahrzunehmen.
  • Sie entledigen sich daher dieser Mindestverantwortung als Aktionär, indem sie das Stimmrecht von externen Dritten, den Stimmrechtsberatern, ausüben lassen.
  • Die Stimmrechtsberater sehen bei zwei Großaktionären aufgrund der starken „finanziellen Verbindung“ zum Unternehmen einen potentiellen Interessenkonflikt und stufen sie als „abhängig“ ein.
  • Am Ende steht auf Basis interner Richtlinien die Empfehlung, zwei Großaktionären das Recht zu versagen, den Kern ihres Vermögens selbst zu beaufsichtigen und den Vorstand im Rahmen der Aufsichtsratstätigkeit mit Rat zur Seite zu stehen und kritisch zu begleiten.

Ich möchte klarstellen: Ich fühle mich wegen der – dank der Eigentumsverhältnisse folgenlosen –Ablehnungsempfehlung nicht persönlich angegriffen. Denn die Begründung basierte ja gerade nicht auf einer individuellen Beurteilung meiner Aufsichtsratstätigkeit. Vielmehr halte ich das Zustandekommen und die Argumentation für die vorgenannte Stimmrechtsausübung schlichtweg für intellektuell absurd – und extrem bedenklich. Denn das Aktiengesetz spricht bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrates explizit von „Anteilseignervertretern“. Und es ist doch offensichtlich, dass niemand die Interessen der Anteilseigner besser vertreten kann, ja mit mehr Recht vertreten darf, als ein Anteilseigner selbst. Der Eigentümer ist nach dem Gesetz ein vollberechtigter Stakeholder und hat als solcher ein explizites Recht auf Repräsentanz und Verfügung über sein Eigentum.

Wenn nun gegen dieses Recht offen angegangen wird, muss man sich fragen, was der Ursprung der Bedenken gegen „abhängige“ Aufsichtsräte ist? Bei der Antwort schließt sich nun wieder der Kreis zum ersten Teil meiner Rede: Am Ende des Tages geht es auch hier, mitten im Kapitalmarkt, um Misstrauen gegenüber der moralischen Integrität und dem Handeln von Eigentümern. Man unterstellt, dass sie im Zweifelsfall das eigene Interesse über das des Unternehmens stellen und einen Interessenkonflikt immer zu ihren persönlichen Gunsten auflösen würden.

Dabei könnte man den Spieß auch umdrehen: Es ist eine Tatsache, dass die Abstimmungsempfehlungen der Stimmrechtsberater die breite Öffentlichkeit erreicht und damit das Wahlverhalten aller Aktionäre beeinflusst. Gleichzeitig werden aber mögliche und reale Interessenkonflikte – denn auch Stimmrechtsberater sind profitorientiert und bieten vielen Unternehmen unterschiedliche Dienstleistungen an – bisher nur den zahlenden Kunden der Berater offengelegt. Eine öffentliche Kontrolle der selbsternannten Kontrolleure und ihrer Interessenskonflikte findet nicht statt. Transparenz sieht für mich anders aus.

Damit komme ich zurück zu der Frage: Ist die Infragestellung von Eigentum und der damit einhergehenden Rechte und Pflichten vielleicht nur ein Zeitgeistphänomen? Kurzlebig und bald wieder verschwunden?

Ich fürchte nicht – zumindest nicht von selbst! Denn ich sehe hier einen Trend der „minimalinvasiven“ Angriffe auf einen zentralen Verfassungskonsens und Grundstein der sozialen Marktwirtschaft – unterströmt und bestärkt von einer gefährlichen Debatte über grundlegende soziale Umverteilung. Und das Misstrauen, auf Basis dessen das Eigentumsrecht heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen in Frage gestellt wird, beschäftigt mich als Unternehmer sehr.

Denn ich fühle mich in diesen Monaten immer wieder an das Wort des bekannten Staatsrechtlers Böckenförde erinnert. Der Journalist Heribert Prantl hat es als das „E=mc2“ der Staatsrechtslehre bezeichnet. Es lautet:

„Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

In der Tat: Unser Staat ist auf die freiheitliche und demokratische Gesinnung seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Diese Gesinnung ist sein soziales Kapital, eine elementare Voraussetzung seiner Existenz. Und diese Gesinnung ist nicht denkbar ohne das Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie – und das Recht auf Eigentum und dessen Schutz.

Die Aufgabe für alle, die in der sozialen Marktwirtschaft das erfolgversprechendste Wirtschaftsmodell für die Schaffung von allgemeinem Wohlstand sehen, lautet daher:

  • Wie schaffen wir in der Gesellschaft wieder Vertrauen zu den Akteuren der Wirtschaft?
  • Wie überzeugen wir die Menschen, dass die überwältigende Mehrheit der Unternehmer die Verpflichtung des Artikels 14 ernst nimmt und sich dem Wohle der Allgemeinheit verpflichtet fühlt?
  • Und wie können wir Verständnis dafür erzeugen, dass Eigentum – und sei es ungleich verteilt – die Voraussetzung für unternehmerisches Handelns ist?

Es gibt leider keine einfachen Antworten auf all diese Fragen. Und sicher wird es der Anstrengung vieler bedürfen, um eine nachhaltige Veränderung der Wahrnehmung zu erzielen. Aber ich darf Ihnen versichern, dass die Johanna Quandt-Stiftung auch weiterhin versuchen wird, dazu einen Beitrag zu leisten. Denn die Bemühungen der Stiftung um ein besseres Verständnis 

  • der marktwirtschaftlichen Zusammenhänge sowie
  • der zentralen Bedeutung von Unternehmen, Unternehmerinnen und Unternehmern 

erscheinen mir heute wichtiger denn je.

Und so kommt auch dem Herbert Quandt Medien-Preis im 34. Jahr seines Bestehens eine besondere Rolle zu. Denn auch das Kommunikationsklima ist – nicht nur in unserem Land – rauer geworden. Viele Menschen sehnen sich angesichts einer komplexen und unübersichtlichen Welt nach Eindeutigkeit. Doch wir sollten uns nicht von den großen Vereinfachern das Denken abnehmen lassen.

Guter Journalismus nimmt uns nicht das Denken ab, er macht uns vielmehr nachdenklich. In der Jury-Begründung des renommierten Grimme-Preises heißt es über die auch von uns ausgezeichnete Reportage „Im Schatten der Netzwelt“ – ich zitiere:

„Vorschnelle Überlegungen erweisen sich schnell als zu kurz gegriffen – eine Lösung der komplexen Problematik wird nicht angeboten. Wir erhalten einen Einblick in Strukturen, auf die wir Einfluss nehmen müssen, wenn Meinungs- und Informationsfreiheit und demokratische Systeme eine Zukunft haben sollen.“

Wir dürfen uns nicht mit der Reduzierung von Vielfalt, mit Polarisierung oder Simplifizierung abfinden. Hierin sind die diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträger des Herbert Quandt-Medien-Preises uns ein Beispiel:

Sie alle haben sich nicht mit einfachen Antworten oder vorschnellen Überlegungen zufrieden gegeben – selbst wenn persönliche Überzeugungen dies vielleicht als verlockend erscheinen ließen. Im Gegenteil: Mit professioneller Zurückhaltung in der Beurteilung werfen sie Fragen auf, denen wir uns stellen müssen, und beleuchten Hintergründe auch dort, wo wir gerne mal wegsehen.